Tone Avenstroup: Mare Monstrum


Tone Avenstroup (* 1963 in Oslo) ist eine norwegische Lyrikerin und Übersetzerin. Sie arbeitet auch als Regisseurin und Performerin. Mitgründerin der Theater- und Performancekollektiv BAK-TRUPPEN in Bergen, Norwegen. Eigene Produktionen in Zusammenarbeit mit Musikern und bildenden Künstlern seit 1998. Ihre norwegische-deutsche Lyrik und Texte zur intermedialen Produktionen sind u.a. beim Verlag Peter Engstler erschienen. Sie wohnt in Berlin seit 1990. Webseite: www.syssel.de

Auszug aus der Partitur Mare Monstrum von Tone Avenstroup
Mare Monstrum, interpretiert durch das SprachKunstTrio sprechbohrer

Tone Avenstroup
Mare Monstrum
ein Wellenstück für die sprechbohrer
Begleittext zur Partitur

Aus dem Norwegischen von Kata Veress

Immer ein hörbarer Wind, selten ist es still hier an der Küste, der Südküste Norwegens, am Skagerrak. Ob du von dieser oder der anderen Seite des Flusses kommst, von einer der Inseln da draußen oder aus dem Landesinneren; man braucht nicht weiter als nach Mosby zu fahren, um eine andere Mundart zu hören. Man hört, woher du kommst, die Schreie vom Mittelmeer hört man nicht. Ein Bild gibt keinen Schrei wieder. Tagtäglich werden wir von aktuellen Meldungen über neue Tote informiert. Und über diejenigen, die gerettet werden: farbenfrohe Gesichter, rote Westen, blaues Meer. Selten sehen wir die Grausamkeit des Ertrinkens, und an diese Bilder haben wir uns so sehr gewöhnt, dass sie uns im Alltag kaum mehr stören.

Die Flüchtlingswelle ist keine Naturkatastrophe. Die Nachrichten melden, wir seien vom Flüchtlingsstrom überflutet. Wassermetaphern. Die Partitur geht ein aktuelles Thema an, obwohl der Krieg in der Ukraine und unsere Bereitschaft, den von dort Geflüchteten zu helfen, zurzeit das mediale Bild dominiert.

Der Massentod im Mittelmeer ist ein fortdauernder Albtraum. Das norwegische Wort ›mare‹, das englische ›mare‹ und das deutsche ›Märe‹ klingen ähnlich. Die ersten beiden bezeichnen einen Gestalt, der sich nachts auf die Brust setzt und einem im Schlaf quält. Im neueren Sprachgebrauch heißt das englische ›mare‹ ›Stute‹ auf Deutsch, und das norwegische ›merr‹ so viel wie ›Mähre‹, hier ist es aber ohne h, wie im Wort ›Märchen‹ – aber es ist ein Albtraum. Das Stück ist den Verstorbenen gewidmet, denen, welche die Wellen nicht überlebt haben, die diesen erlagen, die ihre Geschichte nie erzählen konnten, die nie unseren Wohlstand gefährdeten, die nie eine Bedrohung darstellten, »uns die Arbeit wegzunehmen«, die nie »an unserer Wohlstandsgesellschaft schmarotzen« wollten. (An abwertenden, die Fluchtursachen verleumdenden Ausdrücken fehlt es nicht. ) Die Partitur ist als eine Erinnerung geschrieben, an diejenigen, die im Mittelmeer gestorben sind – das Meer, das nun wie ein Grab liegt, ein Friedhof, ein Seeweg ohne Stolpersteine.

Der in Durrës geborene albanische Lyriker Arian Leka gedenkt in seinen Gedichten seines Vaters und albanischer Seemänner, die auf See ihr Leben verloren haben. Er spricht von Mare Nostrum (unserem Meer) als Mare Monstrum. In seinem Poem Auschwitz Detar (Das Auschwitz der Meere) stellt er sich die einzelnen Meeresgebiete im Mittelmeer als unterschiedliche Baracken vor (Abwärts! 3/2021: »Baracke II – Die Küste von Lampedusa«). Zum auf Deutsch provokativ klingenden Titel sagt Zuzana Finger, die deutsche Übersetzerin des Gedichtes, folgendes: »Wir haben ein Wort dafür, was mit den Menschen in Auschwitz passiert ist, aber wir haben noch kein Wort für das, was auf den Meeren passiert.« (»Rettungsboot für die ertrunkenen Seelen«, 17.03.21)

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Ich habe nie ein Musikinstrument gelernt, aber ich kenne die Wellen. Wie sie sich kräuseln und krümmen, wie es spritzt, wie die Wogen brechen und sich Meeresschaum bildet – die Wirkung des Windes auf die See habe ich kennengelernt. Angefangen mit der Welle, die Wörter ›bølge‹, ›Welle‹ ›waves‹, habe ich eine Tabelle mit den Buchstaben aufgestellt. Drei Wörter, fünf Buchstaben. Nach der Beaufortskala wird Windstärke in dreizehn unterschiedliche Stärken eingeteilt, wobei Stärke 1, »leiser Zug« mit einer Geschwindigkeit von maximal 1,5 m/s dem norwegischen »flau vind« mit leichten Kräuselwellen entspricht, während »leichte Brise« (Stärke 2 auf der deutschen Skala) nicht mit »lett bris« zu übersetzen ist (Stärke 3 auf der norwegischen Skala), und ›Sturm‹, ›storm‹, ›storm‹ sind auch falsche Freunde. Daher habe ich sechs ungefähre Windstärken aufgestellt.

Im Mare Monstrum gibt es keine spiegelblanke See, aber die Böen werden allmählich zum Orkan. Niemand will sich ins Boot setzen bei solchem Unwetter – andauerndes Chaos, white noise, das Bild ist vom Schaum bedeckt, ein schäumendes Weiß.

Die Wellen-Variationen waren am Anfang ein Material, mit der Tabelle habe ich eine Struktur oder ein Muster gefunden. Da das Stück für das deutsche Trio sprechbohrer geschrieben ist und ich meist auf Deutsch arbeite, habe ich die deutschen Bezeichnungen für die Windstärken benutzt. Norwegisch wurde der hellen Stimme zugeteilt, das Deutsche der Bass-Stimme, und in der Mitte gibt es vor allem Englisch. Die drei Sprachen wurden mit unterschiedlichen Farben markiert, damit ich sehen konnte, wie sie korrespondierten.

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Auszüge von Informationen und Ausschnitte von Nachrichten sind als Text-Fragmente in die Wellen-Variationen montiert: »N. N. … ertrunken … unbekannt … unbekannt«. Todesursache: Flucht.

Eine unvollständige Liste diente als Quelle. Das Buch mit über 400 Seiten, mehr als 35 000 Menschen, woher sie kamen, wie sie starben, soweit man es weiß, auf dem Weg nach Europa, ein Register, das seit 1993 geführt wird. Herausgegeben von Kristina Milz und Anja Tuckermann, in erster Auflage 2018 im Berliner Verlag Hirnkost KG erschienen. Eine norwegische Veröffenlichung gibt es nicht, die Liste wurde ursprünglich vom paneuropäischen Netzwerk UNITED for Intercultural Action in Amsterdam zusammengestellt.

Ortsnamen, Zahlen und Erzählfragmente, ohne Fokus auf Einzelschicksale. Die Informationsmenge ist reduziert, die Fragmente sind fast poetisch, aber sie sind nicht erdichtet. Das Stück ist ein Extrakt, die Textteile aus dem bestehenden Informationsmeer gezogen.

Ein einziger Fall ist erkennbar – der Junge am Strand. Alan Kurdi, ein dreijähriger syrischer Junge, der an der Küste in der Nähe des türkischen Badeorts Bodrum tot aufgefunden wurde. Das Bild, wie die Küstenwacht den Ertrunkenen auf dem Arm trägt, machte die Katastrophe sichtbar. Fotografiert von Nilüfer Demir, an einem Septembermorgen 2015. »Am 2. September ist die Welt aufgewacht« (in: Gutten på stranden, Quintano Forlag, Drøbak 2021). Die Balkanroute war einige Wochen zuvor gesperrt worden, und Angela Merkel wiederholte stets »wir schaffen das«. Auch Rehab Kurdi (35 Jahre), seine Mutter, und sein Bruder Galip (5 Jahre) sind gestorben, auf der Seestrecke zwischen Bodrum und der Insel Kos.

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Norwegisch ist eine konstruierte Sprache, die sich in ständigem Wandel befindet. Es gibt zwei offizielle Sprachen, Bokmål und Nynorsk, die auf Riksmål bzw. Landsmål basieren. Nach einer ganzen Reihe von umfassenden Rechtschreibreformen in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts wurde 1952 die Norwegische Sprachkommission (Norsk språknemnd) gegründet, die 1972 in Norsk språkråd (Rat für Norwegische Sprache) umbenannt wurde, und die ihre Tätigkeit seit 2005 unter dem Namen Språkrådet (Der Sprachrat) als staatliches Fachorgan mit Normierungsbefugnis ausübt. Der Rat macht regelmäßig Vorschläge für Änderungen der beiden Sprachnormen, genehmigt neue Wörter, norwegisierte Anglizismen und geschlechtsneutrale Bezeichnungen. Die jeweiligen Wortvarianten sind in beiden Sprachen gleichgestellt: 2005 wurde in Bokmål der Unterschied zwischen Hauptformen und Nebenformen aufgehoben, und seit 2012 sind auch die Nebenformen in Nynorsk, die der Gleichgewichtsregel bezüglich der Betonung entsprechen, gleichrangig.

Der Variantenreichtum ist in den Mundarten noch größer: Diese können in zwei Zweige, und (je nach Auffassung) in vier oder fünf Dialekte, gegliedert werden. Im Norwegischen gibt es zahlreiche Möglichkeiten der Aussprache: Das Personalpronomen der ersten Person Singular ›jeg‹ (Nynorsk: ›eg‹) hat folgende Varianten: [æ], [e:], [e:g], [jæɪ ], [jei], [i:]. Darüber hinaus kann man je nach Dia- und Soziolekt oft entscheiden, mit welchem grammatischen Geschlecht man ein Substantiv definieren möchte: ›ei‹ oder ›en sol‹ (Sonne: Femininum oder Maskulinum), ›ei‹ oder ›en jord‹ (Erde: Femininum oder Maskulinum), der Mensch ist aber immer Neutrum: et menneske. Mein Dialekt, Sørlandsk, gehört zu den westnorwegischen Dialekten, auch wenn er in vieler Hinsicht dem Dänischen oder Südschwedischen ähnlicher ist. Die allgemein bekannte absteigende Melodie gehört zu den Kennzeichen des Sørlandsk, im Gegensatz zu den hellen und keckeren/freimütigen Tonhöhenbewegungen im Østlandsk oder Trøndersk, bei denen der Ton am Satzende ansteigt (in der Linguistik mit einer2 gekennzeichnet). Die Norweger singen, heißt es, aber die Südnorweger bestimmt nicht. Ich spreche das Rachen-R und einige sogenannte weiche (nasse) Konsonanten, aber kein typisches Norwegisch. Daher bin ich auf Probleme gestoßen, als ich meine Artikulation normieren sollte.

Am Anfang des Projekts hatten wir eine Einführung in das IPA (das Internationale Phonetische Alphabet) bekommen, und ich bin im Grübeln über die Unterschiede zwischen den einzelnen norwegischen Dialekten steckengeblieben. Probleme tauchten auf, die weder semantisch noch experimentell waren. Dag (Tag) zum Beispiel: mit oder ohne g, [da:gh] oder [da:] und überhaupt, welches r soll ich denn wählen? Eine reine ostnorwegische, die Osloer Mundart, bei der es einen ungefähren IPA-Standard gibt, das fühlte sich fremd an, aber ein reines Südnorwegisch wäre auch nicht das richtige, denn ich wusste, die Aussprache würde sich fremd anhören; es lässt sich nicht vermeiden, dass die Aufführung der sprechbohrer durch einen deutschen Klang geprägt sein wird. Daher wollte ich eine deutliche Konstruktion, damit der fremde Klang nicht wie ein Fehler klingt. Also wurden es zwei Sorten Norwegisch: Sigrid, die die meisten norwegischen Passagen hat, bekam das ostnorwegische gerollte R [ ɾ ], Harald auch, aber Georg erhielt das Rachen-R [ ʁ ] Südnorwegens. Die IPA-Transkription ist aber nicht konsequent durchgezogen, sie ist wie die norwegische Sprache: voller Ausnahmen und Wahlmöglichkeiten.

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Die Partikularisierung der Sprache, ihre Zerlegung in einzelne Buchstaben und Zeichen war neu für mich. Der IPA-Text kam mir visuell fremd vor. Dagegen hat es geholfen, die Textfragmente mit unterschiedlichen Farben zu markieren, damit ich sie als Streifen sehen konnte, wie Tonspuren in einem Schnittprogramm. Bei früheren Hörstücken habe ich mit fertigem Tonmaterial gearbeitet, hier musste ich mit der Komposition auf dem Papier klarkommen. Um mir eine visuelle Übersicht zu verschaffen und das Material von der Maschine unabhängig zu machen, habe ich die unterschiedlichen »Windstärken« auf dem Boden verteilt: Drei Stimmen und drei Sprachen wurden zu einem Bogen von zehn Sequenzen gewoben.

Die anatomische Platzierung der Sprache war auch neu für mich. Wo in der Mundhöhle ein Laut gebildet wird, das war eine neue Erfahrung, ich bin eher eine situative oder räumliche Aussprache gewohnt. Bei früheren Stücken habe ich mit der Wechselwirkung zwischen Aufnahme und Sprechen gearbeitet, zwischen live und Konserve, Stimme mit und ohne Verstärkung, digitale versus analoge Wiedergabe. Neu an diesem Projekt ist zudem, dass ich die Partitur nicht für meine Stimme schreiben sollte, sondern für sprechbohrer. Das Gesprochene als Laut, Grammelot oder Grummelot, dass die Sprache sich in Klang auflöst, eine Abstraktion wird, dass das Semantische durch die Wiederholung aufgehoben wird. Dass der Text in Musik ertrinkt, oder nicht das dominante bedeutungstragende Element einer Aufführung ist, im Theater zum Beispiel, sondern abgestimmt wird, im Verhältnis zu den anderen Elementen im Raum: das Licht, die Bewegungen und die Figuren. Dass es ein Zusammenspiel ist, zwischen den szenischen Elementen, kenne ich aus Theaterformen, die Gleichwertigkeit der ästhetischen Mittel voraussetzen, die eine Äquivalenz-Dramaturgie haben.

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Die Partitur ist ein Mahnruf, hat keine Lösung, bringt keine Analyse, auf diese Weise ist sie nicht politisch. Sie belastet auch keinen, niemand wird direkt beschuldigt, weder die Lotsen, die vom Ganzen profitieren, noch diejenigen, die von der »Flüchtlingsindustrie« leben. Die brutalen Pushbacks von Frontex werden nicht kritisiert, nur erwähnt, als Wörter, als würden sie in den Wellen fließen. Die Anklage ist offen.

Kristiansand/Berlin, Februar/April 2022