Elisabeth Wandeler-Deck: ricochet rikoschett / eine ungefähre passacaglia möglicherweise


Elisabeth Wandeler-Deck (Schweiz) geboren 1939, arbeitete als Architektin im In- und Ausland und gründete 1999 das Büro für Geschlechterfragen Zürich. Sie ist seit 1976 als Schriftstellerin tätig. Als improvisierende Musikerin (Vorlesestimme, Klavier, Gitarre) ist sie Mitglied der Gruppen Interco (Performance) und bunte hörschlaufen (Musikkonzepte, freie Improvisation, Performance). Seit 1998 aktive Mitarbeit im DamenDramenLabor (DDL). Viele Buchveröffentlichungen u.a. bei etk Bern, dort zuletzt 2018 /Visby infra-ordinaire/, und Edition Howeg Zürich, zuletzt 2019 /TAGUMTAGKAIRO/. 2013 erhielt sie den Basler Lyrikpreis, 2017 das Werkjahr der Stadt Zürich. Ihre neueste Veröffentlichung ist der Lyrikband /attacca holdrio/ (edition sacré, Zürich 2020).

Auszug aus der Partitur ricochet rikoschett / eine ungefähre passacaglia möglicherweise von Elisabeth Wandeler-Deck
ricochet rikoschett / eine ungefähre passacaglia möglicherweise, interpretiert durch das SprachKunstTrio sprechbohrer

Elisabeth Wandeler-Deck
ricochet rikoschett / eine ungefähre passacaglia1 möglicherweise
Auf eine Passacaglia hin »Zeilen und Silben« / »Melodie und ihr Echo« gegen »Puls und Insistieren«2

Nach einer Formvorstellung suchen

Nach einer Formvorstellung suchen, flüchtige Gedanken, einschießende Stichworte …

(Text- bzw. Klang-)Architektur, flüchtig, präzis, in Räumen gehen vor sich gehen, geht Sprechen, was wäre dann, jetzt, das Sprechbohrerhafte …

Will mich weiter mit Passacaglia befassen (György Ligeti / Passacaglia ungherese; Robert Pinget / Passacaille bzw. in deutscher Übersetzung Passacaglia, daselbst das Nachwort von Reto Hänny) bzw. Passacaglia – Wikipedia3

Wechselbewegungen → Passa calle die Strassenseite wechseln siehe auch dazu Wikipedia.

Dichtestufen → Ligetis Passacaglia für Cembalo zeigt drei Ausprägungen von Klang- / Ereignisdichte, damit den Eindruck der Beschleunigung erzeugend …

Hier auch die Verschlaufungen des Schreitens durch die Stimmen hindurch mit den »freien« Klangbewegungen interessant …

Grundlegendes zur Komposition: Text / Passacaglia / ECHO

Rasch war mir klar, dass ich mich mit der musikalischen Form der Passacaglia befassen wollte. Diese faszinierte mich im mehrfachen Sinne, einenteils literarisch seit längerem, nenne hier Robert Pinget, Passacaille, Les Éditions de Minuit, Paris 1969, dt. von Reto Hänny erschienen als Passacaglia, Bibliothek Suhrkamp 1991. Reto Hänny ergänzte den Band durch ein erhellendes Nachwort, in welchem er auch die Passacaglia als musikalisches Geschehen diskutierte. Ich zitiere hier den Klappentext, der mir für meine Komposition in mehrerer Hinsicht klärend und zu eigenem Tun anregend erscheint:

»In der Musik versteht man unter Passacaglia ein Stück, das sich auf einem wiederkehrenden Bassthema (Puls, EWD) aufbaut. Robert Pinget … ruft in seinem Text … durch Anknüpfung und Variation einen komplexen Refrain-Effekt hervor, der für die Dauer der rätselhaften Geschichte um einen Toten die ablaufende Zeit und den Tod außer Kraft setzt.«

Zum einen also Passacaglia / Puls, Refrain: die gehende und zugleich stockende Zeit kommt ins Lauten. Die Zeit wird zugleich und in Einem außer Kraft gesetzt. Klang steht und treibt vorwärts. Als Klanggeschehen vorzustellen das Lauten von Schritten in engen Gassen Venedigs, deren Widerhall sich vermischend mit dem Echo von Stimmen.

Zum andern wollte ich mich auch daher weiter mit ECHO befassen, Echo zunächst vertraut als mechanisches Zurücklauten, als Abprallen der Schallenergie am Widerstand, ähnlich dem Geschoss am Hindernis, Rikoschett also erzeugend.

ECHO aber auch als gestaltetes und gestaltendes Antworten. Ganz fern erklingt dabei im Gedichtmaterial die traurige Geschichte von Echo und Narziss, von Echo, die für ihre Redefreudigkeit damit bestraft wurde, nur noch zu wiederholen, was sie hörte, und von Narziss, der im Lieben unbegabte, an den (Nicht-)Antworten von Echo verzweifelnde.

Echo für mich als musikalische Herausforderung, nämlich Text nicht einfach mimetisch zu wiederholen, sondern wie auch immer verschoben und zum von mir vorgegebenen Text in ein anderes Klingen zu bringen, zu einer der alltäglichen Sprechrede fremden Lautlichkeit zu setzen. ECHO im Unterschied zum Mythos4 als aktive Instanz zu verstehen, als Gestaltende, das Vorgeworfene umbildende.

Zum dritten die drei Stimmen, die sich verflechten, kontrastierend, in den langsamen Tanz der Passacaglia einladen.

Diese Gedanken und das Finden von geeignetem Sprachmaterial, eine intrikate Angelegenheit, mit im Folgenden aufgeführten Ergebnissen:

Sprachmaterial 1, der Text und sein Echo – Narziss und Echo – das Begehren nach Antwort, nach Rede

Echomaterial aus »ricochet«, dies die Überschrift einer Gedichtfolge in versionenlust ECHO, Edition Howeg, Zürich 2022, sowie von Varianten dieses Zyklus mit dem Zusatz »stumme Gedichte« für die Künstlerin Marion Strunk.

Die Gedichte bestehen aus Strophen, aus deren Wortmaterial immer wieder kleine Echo-Passagen herausspringen und in Form von Kurzzeilen oder kleinen Wortgruppen sich störend den Strophen beigesellen, so dass sich eine für meine Komposition geeignete Klangtendenz schon im Text zeigt.

Sprachmaterial 2 die Schritte, Passi des Passierens der Zeit

Anfangs- bzw. Zwischen- oder Endsilben, dem Grundtext entnommen, geordnet nach den sie bestimmenden Vokalen; diese gehen / gleiten durch alle Stimmen. Ungleich einem Gleiten der Signifikanten, das für das ECHO- bzw. ricochet-Geschehen gelten mag, handelt es sich hier um sehr langsames Hüpfen, Gehen, Schreiten von kurzen Klängen. Von einander abgesetzte Sprachquanten, je gesetzt in annähernd regelmässigen zeitlichen Abständen an den Kanten von Sprache. Zur Frage nach Sprachquanten siehe auch Wolfram Malte Fues, buchstäblich buchstieblich, Edition Howeg 2021.

Sprachmaterial 3 das Gerede

Der Fluss der Passacaglia, ihr Gang, wird an geeigneter Stelle unterbrochen durch Stillstand, den ich mit Gerede zum Klingen bringe. Das Geflecht von Stimmen und Passi (Schritten) bricht ab, ein Gewirr aus Stimmen ergibt eine Art Unzeit. Zu Gerede siehe auch Hans-Wolfgang Schaffnit, Das Gerede. Zum Problem der Krise unseres Redens, Passagen Verlag, Wien 1996

Zeitmaterial / Verläufe / Abläufe / Bewegungsformen und andere Parameter

Langsam und zögernd sprechen, sanft sprechen, die Poren der Sprache erklingen machen

Porös sprechen, was meint Poros, wie Poröses musikalisch auch denken, weshalb ein Interesse am Porösen

Poros verkörpert den Ausweg, die Fülle; Vater des Eros

Im porösen Kalkgebirge, im Karst also Abbrüche, Einbrüche, der Untergrund morsch, instabil, brüchig, hart, mau

Sprachquanten perkolieren durch passende Materie und generieren Wörter, Worte, Text, Wortklang, Gemurmel ein Vorgang, Perkolation geschieht, geschieht klingend

Das Gemurmel zwischen dem Glucksen; Passacaglia / Robert Pinget, zitiert im Nachwort von Reto Hänny, da auch ein Verweis auf Samuel Beckett (S. 121)

Das Schreiten bzw. regelmässige Pulsieren im Gang durch die Stimmen

In einen Schlaf gefallen sprechen, durch drei Stimmen, Murmeln im Schlaf, Glucksen, Pochen, Schreiten, durch Zeiten, in Zeit, die Zeit stoppen im Schlaf, stoppt ECHO die Zeit, läuft ECHO in Zeit

Chronale Transduktion bei Clemens Gadenstätter: »Bodensatz – Überlegungen zu einem kompositorischen Phänomen« – Musik unserer Zeit – SRF15

Darstellung von Verläufen in der Partitur

In Das a. Das i. was kann der Umlaut., meiner ersten Komposition für die sprechbohrer, gehen die Zeit in der Horizontalen (Abszisse), die Stimmen und die zugehörigen Parameter in der Vertikalen (Ordinate). D. h. die Zeit geht von links nach rechts.

Zu untersuchen war, ob die Zeit von oben nach unten laufen könnte, um dabei die Sprechstimmen (Text und Parameter) als Spalten in der Horizontalen zuzuordnen: Nein.

Von diesen Überlegungen hatten sich die Bewegungen der Passi (Schritte, Pulse) durch die drei Stimmen erhalten.

Stimmanlage

Helle Frauenstimme / helle Männerstimme / dunkle Männerstimme = S / G / H

Darstellung von Text und Sprechparametern in der Partitur

Was soll die Notation musikalisch leisten? ermöglichen? verhindern? Was kann sie, was erreicht die Notation in der resultierenden Komposition?

Die Realisierung einer Passacaglia aus ricochet / Rikoschett

Die Realisierung einer Passacaglia aus ricochet / Rikoschett untersteht dem Grundgedanken, dass schon Textformen Bewegungsformen beinhalten, dass schon im Innern der Texte nach Verschlaufungen / Verschleifungen / Stockungen / Beschleunigungen geforscht werden muss / soll / kann.

Erste Idee einer Passacaglia aus Sprechen

Die Textelemente

1. #b ilden Gedichte aus Echo / ricochet → stelle mir etwas Luftiges vor: Girlanden im Wind? Eine eigene Bewegung, wie sie erzeugen?

2. Dazu: in ECHO, ricochet → vom Text prallen Elemente ab / zurück / bilden Echoelemente

3. #Dazu: das Gehende, Vergehende, Abgehende nämlich die lautenden, hallenden Schritte aus Silben, verstanden als Sprachquanten, von obigem gebildet, dunkel, quasi regelmässig (wie dieses nur quasi Regelmässige erzeugen, kein Marschieren der Töne!); vielleicht auch zusätzliches Material einsetzen.

→ Drei Bewegungsformen entstehen aus drei Textformen.

Zweite Idee einer Passacaglia aus Sprechen

1. Ein Gemurmel aus richochet-Material aus drei Stimmen

2. #Die Echoelemente sachte in das Gemurmel drängend bzw. das Gemurmel sich aus den Echoelementen entwickelnd, Idee: das Echo lässt seine – klangliche – Herkunft entstehen.

3. #Das richochet-Material fächert sich auf, die Stimmen entwickeln ihre Unabhängigkeit, bis sie sich ev. wieder verflechten.

4. #Echo: die Zeit, die ein Echo braucht, um zu erklingen, dann zu verklingen → klangleere Zeit, ≠ Pause / = Pause → damit arbeiten, → Spannung.

5. #das Gehende, Vergehende, Abgehende nämlich die lautenden Schritte aus Silben, verstanden als Sprachquanten, von obigem gebildet, dunkel, quasi regelmässig, glockenartig, wandernd zwischen den drei Stimmen, ins Gemurmel hineinklingend (wie dieses nur quasi Regelmässige erzeugen, kein Marschieren der Töne!) → die tiefe Stimme, G, beginnt damit und hält längere Zeit durch. In den Zwischenräumen zwischen den einzelnen Schlägen allmählich anderer Text. Im Weiteren mit Passacaglia-Puls oder Puls bezeichnet.

6. #Das Unterbrechen, der Stillstand: die Passacaglia wird einmal unterbrochen durch Gerede von noch zu bestimmender Dauer → div. Ovid-Echo-Passagen, Anderssprachiges aus ricochet, ev. einzelne lat. Wörter.

7. #Wieder setzt die Passacaglia ein, die »Schritte« übernimmt zunächst deutlich die helle Männerstimme. Es geht weiter.

Wie ein ECHO notieren

lein ein———-x / lein ein———-o / r—annt

Wie einen Puls aus Sprache komponieren → Sprachquanten Wolfram Malte Fues6

Sprachquanten, d.h. Gruppen von max. drei Buchstaben, die zugleich dieses und jenes andere (nicht)bedeuten, aus ricochet-Gedichten und aus den ECHO-bezogenen Ovid-Passagen herauslösen und nach dem in ihnen (nicht)enthaltenen Vokal über ein Symbol kennzeichnen, um dem Puls, dem Schreiten, dem Schritt in seiner Abfolge seine Variabilität zu lassen.

Wie ein Gerede komponieren → Kagel? Ein Experiment mit sprechbohrer!

Ein Gerede komponieren aus unexpressivem Sprechen., d. h. in keinem Moment skandierend.

(Die Möglichkeit eines Geredes aus Wortfetzen, Lachern, Gruchsern etc. der Serie der Wortquanten entnommen. Keine Lautpoesie!!! Sprachstrom aus einem weiteren Kapitel des oben erwähnten Gedichtbands. Nicht weiter verfolgt.)

Gerede → aus einem für alle der Stimmen im Prinzip gleichen Stück Prosa, dessen Beginn aber um eine Wortgruppe verschoben gesetzt ist. Die Stimmen setzen zeitgleich ein, es entsteht ein Stimmengewirr. ≠ Kanon!

Vortragsbezeichnungen

Liste musikalischer Vortragsbezeichnungen – Wikipedia7

Bzw. Grundstimmung »andante pensieroso e vaporoso«, »mf bis m«

Lautstärkenwechsel nicht mit cresc. / decresc, sondern stufig

»Gerede« durchgehend mf

Die Komposition

1 Seite = 30”, aufgeteilt in 6 x 5”-Fenster; dieser Raster wird für den Passacaglia-Puls nochmals unterteilt so, dass auf 30” 12 »Schritte« kommen. Muss ausprobiert werden.

1. Teil A (siehe Skizze)

Die Komposition setzt ein mit Echoelementen aus ricochet: helle Männerstimme und mit dem Passacaglia-Puls: tiefe Männerstimme, mp bis mf, leicht schwankend in Lautstärke und Tonhöhe, um Skandieren zu verhindern.

Pause der ricochet-Stimmen / Passacaglia-Puls (im weiteren als »Puls« bezeichnet) durchgehend

2. Teil B (in der Skizze unter A entworfen)

Einsetzen von »Gemurmel« aus ricochet-Material: helle und dunkle Männerstimme; Frauen- stimme übernimmt Puls → Entwicklung des Geschehens im Schreiben der Partitur … siehe auch Teil B in der Skizze, d.h. Puls wird im Wechsel von allen drei Stimmen übernommen, als kleine Unterbrechung von ricochet-Passage.

3. #Teil C »Gerede« (siehe Skizze; separater Versuch mit sprechbohrer anhand eines kurzen Texts)

→ Dauer 45” / setzt quasi attacca ein nach Teil B

4. #Teil D nimmt Form von A / B wieder auf

Direkt anschliessend an Teil C »Gerede« 5” Generalpause, in dieser setzt der Puls wieder ein.


1https://de.wikipedia.org/wiki/Passacaglia

2https://de.wikipedia.org/wiki/Passacaglia

3https://de.wikipedia.org/wiki/Passacaglia

4Mythos kann als Erzählung verstanden werden, die Eingefrorenes überliefert, um es erneut in Bewegung zu setzen, irgendwann.

5https://www.srf.ch/audio/musik-unserer-zeit/bodensatz-ueberlegungen-zu-einem-kompositorischen-phaenomen?id=11887554

6Wolfram Malte Fues: buchstäblich buchstieblich, Edition Howeg 2021

7https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_musikalischer_Vortragsbezeichnungen