Miia Toivio: Rakas Hupsu

Miia Toivio, geboren 1974 in Ilmajoki/Finnland, Mitbegründerin des Verlags Poesia, arbeitete als Literaturkritikerin, Kolumnistin, Herausgeberin des Lyrikmagazins Tuli&Savu sowie als CreativeWriting-Lehrerin. Ihr vierter Gedichtband Sukupuutot erschien 2019 und wurde mit dem Nihil InteritPreis für den besten Gedichtband ausgezeichnet. Gedichte von ihr wurden ins Litauische, Estnische, Russische, Italienische und Norwegische übersetzt.

Auszug aus der Partitur Rakas Hupsu von Miia Toivio
Rakas Hupsu, interpretiert durch das SprachKunstTrio sprechbohrer

Miia Toivio
Du bist ein mündliches Gedicht

Aus dem Finnischen von Stefan Moster

Liebes lustiges Dummchen,

du bist ein mündliches Gedicht, bist ein Gedicht, das in den Mund passt, und bist im höchsten Maße ein Gedicht, das man küssen kann. Schmatz. Mit Küssbarkeit, nein, Mündlichkeit verweist man üblicherweise auf ein Gedicht, das ohne die Fähigkeit zu schreiben entsteht, sondern mündlich gesungen, erzählt oder memoriert wird. In diesem Sinne bist du nicht mündlich, weil du mit einem Textverarbeitungsprogramm geschrieben und mittels digitaler Technik und des unsichtbaren Netzes in ein anderes Land geschickt worden bist, und keine namenlos gebliebene Person hat dich erfunden und du bist auch nicht in einer Stubenecke gesungen und gehört und wiederholt und angeeignet und ins Nachbarhaus getragen und dort gesungen worden, bloß ein bisschen anders, dennoch einprägsam, worauf du anschließend auch am zweiten Abend auf einer Zunge zergangen wärst und eine dritte Person von dir entzückt gewesen wäre und sich dich angeeignet und nach Hause mitgenommen und gesagt hätte, wollen wir ein bisschen singen, und dann wäre wieder anders gesungen und zugehört und angeeignet und memoriert und von Neuem gesungen worden, aber nein, auf diese Weise bist du nicht gereist, du bist nicht von Mund zu Mund gegangen, von Ohr zu Ohr, allmählich deine Form verändernd, auf diese Weise bist du nicht im Körper deiner Sänger und Sängerinnen und Zuhörer und Zuhörerinnen von einem Ort zum anderen gewandert, sondern du bist innerhalb von zwei Sekunden vom einen Land ins andere gezogen, von Mensch zu Mensch, in diesem Fall von Helsinki in Finnland nach Köln und Berlin in Deutschland, und dort bist du mit Augen gelesen und in Mundhöhlen ausprobiert und im Frühling 2022 von Mündern erlernt, von Mündern angeeignet, von Mündern mitgeführt und vorgetragen worden. Du bist ein geschriebenes Gedicht, das Münder adoptiert haben.

Du hast deinen Anfang gefunden bei meiner Sehnsucht nach jener kulturellen Erfahrung, in der Sänger und Sängerinnen Gedichte im Mund mit sich tragen wie Tiere ihre Jungen. Ich sehne mich nach der Verbindung zu dieser finnisch-ugrischen Tradition des Gedichtgesangs, zu der ich als schreibende Dichterin keinen Kontakt habe. Und eine solche Kultur existiert ja auch seit mehr als hundert Jahren gar nicht mehr. Der Ort des Schreibens ist umgezogen, hat sich verändert. Der Gedichtgesang als mündliche Kunst ist verschwunden, die Dichtung hat sich in der geschriebenen Kultur eingenistet, und das Gegenwartsgedicht entwächst der schriftlichen Tradition. In der Abteilung für Volksmusik an der Sibelius-Akademie wird weiterhin Gedichtgesang gelehrt, aber diese Menschen nennt man nicht mehr Dichter, sondern Musiker. Für meine Begriffe schaffen sie auch nicht mehr aktiv neue Gedichte, sondern untersuchen und singen die im Archiv für Volksdichtung aufbewahrte Tradition.

Du, liebes lustiges Dummchen, meine kleine Ulknudel, bist trotzdem ein mündliches Gedicht, was für mich, deine Schreiberin bedeutet: Ein Gedicht, in dem die Lauthaftigkeit und die Rhythmik der Sprache, kurzum das vom Gedicht geschaffene körperliche Gefühl, das Schreiben des Gedichts geleitet haben. Du bist kein kalevalisches Gedicht, sondern ein experimentelles und interdisziplinäres Gedicht. Deine Wurzeln liegen in der historischen Avantgarde vom Anfang des 20. Jahrhunderts, insbesondere in der Lautdichtung. Deine Art von Dichtung hat mir immer am meisten Freude bereitet: Dichtung, in der die musikalischen Seiten der Sprache das Gedicht übernehmen und, wie sagt man, an sich reißen. Und herumwirbeln! Dichtung, in der die lautliche und rhythmische Form des Gedichts in den Vordergrund treten, die Aufmerksamkeit der Lesenden auf sich ziehen und sie in Bewegung versetzen. Dichtung, die hauptsächlich als lautliches Ding entstanden ist, auf die Sprache lauschend und an ihr kauend. Solche Dichtung wird in Finnland derzeit nicht viel geschrieben, was schade ist. Auch deshalb freue ich mich über deine Existenz.

Das mündliche Schreiben ist auch in meiner Arbeit seit einigen Jahren aufs Nebengleis geraten. Es ist bereits zehn Jahre her, dass der Gedichtband Suut (Die Münder, Poesia 2012) erschien, den ich zusammen mit Marko Niemi geschrieben habe. In diesem Werk wurde die Lautlichkeit des Gedichts sowohl mit Hilfe des methodischen, also auch des – in Ermangelung eines besseren Wortes – traditionellen Schreibens herausgestellt. Wir benutzten beim Kreieren der Gedichte und Vorfabrikate verschiedene Computerprogramme, die Marko gemacht hatte. Durch diese Programme ließen wir eine Textmasse laufen und erhielten gewisse »Resultate«, die wir dann bearbeiteten. Wir setzten auch verschiedene Einschränkungen als Schreibhilfen ein. Außerdem schrieben wir von uns selbst ausgehend, das Schreibgefühl nutzend, lautlich und rhythmisch betonte Gedichte. Marko war eher für die computergestützten, methodischen und oft strengen Beschränkungen unterworfenen Texte verantwortlich, während ich freier schrieb und nur einige Einschränkungen anwendete.

In den Jahren um das Erscheinen von Suut traten Marko und ich oft zusammen als Lautgedichtduo Miia & Marko auf und loteten dabei die Möglichkeiten des mündlichen Gedichts, der Performance, wie auch des dialogischen Auftritts aus. Im Herbst 2019 verstarb Marko jedoch überraschend. Ich verlor damit einen engen Freund und Kollegen, und meine Beschäftigung mit der Mündlichkeit des Gedichts brach ab. Das Projekt von Lettrétage und sprechbohrer hat mir zu der Möglichkeit und durch die Zusammenarbeit auch zu einem völlig neuen Einfallswinkel (und somit zu Inspiration!) verholfen, meine Fähigkeiten beim Schreiben von mündlicher Dichtung zu befragen und auf die Probe zu stellen.

Mein erster schöpferischer Gedanke im Hinblick auf dich, geliebtes lustiges Dummchen, war daher der Wunsch, die Mündlichkeit oder einfach nur »den Mund« wieder nach Hause zu rufen. Den Mund in meinen eigenen Mund zurückzulocken, um Dichtung zu schaffen. Ich benutzte also die Personifikation und stellte mir den Mund als lebendiges Wesen vor, das man auf die gleiche Art zurückholen kann, wie man Kühe von der Weide in den Stall ruft. Immerhin habe ich als Kind noch das altertümliche Landleben der kleinen Höfe und Dörfer gesehen, denn meine Großeltern hatten an die zwanzig Kühe im Stall. Im Sommer verbrachten die Kühe ihre Tage auf den umliegenden Weiden, von wo sie am Nachmittag zum Melken in den Stall zurückgerufen wurden. Ich erinnere mich nur dunkel daran, wie meine Großmutter und mein Großvater das Vieh von der Weide lockten, aber ich weiß, dass Viehlockrufe Bestandteil der finnisch-ugrischen mündlichen Dichtungstradition sind. Ich brachte den Beginn meiner Arbeit innerlich mit jener Tradition in Verbindung, und aus dieser Perspektive entstand das erste Gedicht der Arbeit Rakas hupsu (Liebes lustiges Dummchen).

Beim Schreiben an dir war schwierig und neu, dass ich dich in Form einer Partitur und für drei Stimmen schreiben musste. Dich zu schreiben war somit ein einziges Lernen, denn ich konnte dich nicht auf die gleiche Art schaffen, wie ich sonst schreibe. Du bist das erste Gedicht das ich in erster Linie dafür schreibe, dass es aufgeführt und gehört wird. Und ja: drei Stimmen. Puh! Mir fällt ein, dass die drei Stimmen drei Gestalten gleichen, die in einem gemeinsamen Garten ihre je eigenen Wege beschreiten, wobei sie sich einen Ball zuwerfen, einander etwas zurufen, aufeinander hören und sich gegenseitig Echo sind. Was für einen Raum (Garten) ein solches Zusammenspiel der Stimmen schafft, kann ich noch nicht wissen. Wenn ich dich zum ersten Mal laut vorgetragen höre, wirst du auch für mich eine Überraschung sein, fremd und vertraut zugleich.

Thematisch bringst du für mich wichtige Dinge zum Ausdruck, auf die ich gleich etwas genauer eingehen möchte. Aber vor allem will ich, dass du deine Zuhörer und Zuhörerinnen daran erinnerst, wie sich die Sprache anfühlt, wie sich die Wörter anfühlen, die Vokale und Konsonanten. Dass deine Zuhörerinnen und Zuhörer sich an den Mund erinnern, an ihren eigenen Mund und was man damit tun kann. Was für ein erstaunliches Wesen wir doch in unserem Mund und in unserem Geist tragen, und was für eine Freude es uns bereiten kann. Und wie dieses Wesen vor allem in der Dichtung lebt und was für eine Kraft es mit sich trägt.

Erinnere und befühle zum Beispiel Aleksis Kivis Gedicht »Sydämeni laulu« (Lied meines Herzens) aus dem Roman Seitsemän veljestä (1870; dt. Die sieben Brüder bzw. Sieben Brüder, mehrere Übersetzungen und Ausgaben). Sage dir laut die darin vorkommenden Wörter und Zeilen vor, das siell on hieno hietakehto1, das kultakehdoss‘ kellahdella2 und das kährääjälintu3 sowie das Schaurige des Schlusses: kaukana kavalaa maailmaa4. Und wundere dich darüber, dass alles, was an diesem Gedicht so anziehend ist, von den Konsonanten und Vokalen abhängt, davon, wie sie aufeinander folgen und wie sie sich im Mund anfühlen.

Dieses Empfinden will ich in meinem Schreiben suchen und erzeugen. Es ist ein bisschen schwer zu beschreiben, und ich habe in meinen Aufzeichnungen bereits auf verschiedene Weisen versucht, es zu formulieren. Einige meiner Versuche, diese Schreiberfahrung einzufangen, werde ich hier nun herzeigen.

*

Auf was für ein Schreiben will ich also hinaus? Auf innere Bewegung, die für einen Moment entsteht und das Gedicht und mich im Gedicht mitnimmt; ich komme gewissermaßen hinterher, spüre mich aber dennoch, halte mich an mir fest bei dieser fremden Fahrt, bei der das Gefühl für mich in Worten und Lauten, die fremde Bedeutungen tragen, da ist. Nach diesem Gefühl greife ich, darauf bin ich aus, danach sehne ich mich, ohne zu wissen, wie ich zu ihm komme, aber beim Schreiben geschieht es, und plötzlich merke ich, dass ich mich wieder in diesem flimmernden Augenblick befinde.

Wenn es eintritt, dieses dieses dieses dieses Gefühl, dieses Festhalten an der Sprache, das aus der Dichtung Dichtung macht, das die Dichtung wirklich vom anderen Schreiben und von anderen Arten unterscheidet, mit denen der Mensch sich in der Sprache auf die Welt hin ausrichtet, sein Dasein und sein Verhältnis zu anderen erfährt und gliedert, bin ich sehr glücklich.

Aus diesem Grund bin ich, stelle ich fest, bei meinem Schreiben nicht besonders daran interessiert, wie das Gedicht aussieht. Das Visuelle und das Typographische ziehen mich nicht so an wie das laute Abschmecken des Gedichts. Das Auge ist der Sinn der Entfernung und kann allein nicht den ganzen Körper wecken, finde ich. Das Gedicht als Objekt des Blickes berührt und bewegt nicht auf die gleiche Art wie das Gedicht als hörbares und spürbares Ding. Außerdem stelle ich mir vor, dass es etwas anderes ist, vom Mund her als vom Auge her zu schreiben, mehr auf das Gehör und das Gefühl gestützt als auf visuelle Muster und Rhythmen. Es kann jedoch sein, dass ich mich täusche und mehr darüber nachdenken müsste.

Aber von dort aus, von jenem Gefühl, von der lautlichen Wiederholung und von einer Art Auftrieb her setzt sich mein Schreiben in Bewegung, und darauf will es hinaus: auf Gefühl, Druck, Rhythmus, Laute und Bewegung. Es geht um das »Gebrumm«, wie Wladimir Majakowski in seinem Essay »Wie macht man Verse« den Anfang des Gedichtemachens beschreibt. Und so denke ich auch, dass das Schreiben eines Gedichts im günstigsten Fall die Hinneigung zum Brummeln ist, zum Rand des Verstehens, und im günstigsten Fall balanciert das Gedicht so auf der Grenze, dass es die Hand fast loslässt.

In Majakowskis Beschreibung geht das Schreiben eines Gedichts vom Gebrumm aus, das sich in Worte verwandelt: Die Wörter lösen sich aus dem Gemurmel. Für mich ist die beste Erfahrung beim Gedichteschreiben jedoch eine gegenteilige: Die Wörter schmelzen an den Rändern, die Bedeutungen schmelzen, fallen mit dem Rücken voran in die Form- und Bedeutungslosigkeit, in den Nonsens. Halten sich dabei dennoch im Rahmen der Verstehbarkeit.

Das Schreiben eines Gedichts müsste meiner Meinung nach immer eine Rückkehr zum Gemurmel sein. Ich weiß nicht warum, aber so kommt es mir einfach vor. Ich achte nur mit Ach und Krach auf die Bedeutungen, umso mehr dafür auf den Auftrieb, mit dem die Bedeutungen angespült werden. Das ist es, was ich vom Schreiben will: eine Welle, die mein Inneres auf den Kopf stellt und wieder zurück. Oder es ist doch die Wirklichkeit selbst, die sich öffnet, hingibt, bricht, sich wandelt, und ich weiß nicht mehr, worum es sich handelt. Ich weiß bloß, dass ich nicht aufhören kann, dabei zu staunen.

*

Du, liebe lustige Ulknudel, bist unsinnig, murmelst und munkelst und brummst, bist hoffentlich ein einziges Humpsen und Plumpsen und Stumpsen und all das, was ich der Dichtung zurückgeben, wiederbringen, neu erschaffen will, jenes Humhumhumhumhum-Gefühl, das sich so gut anfühlt, zum Beispiel im Vokal U.

Das U ist ein Eisschöpfer, eine Grube, weicher Gelato.

Warte kurz, ich labbere es schnell weg.

*

Und zum Schluss, als eine Art Folgerung, als letzte Vorstellung, die hoffentlich auch ein spürbares Bild ist: Der Mund ist eine Kathedrale, ein hallender Ort, in dem die Laute in Wellen flimmern und Bedeutungen mitnehmen. Je öfter man diese Kathedrale besucht, umso stärker wird ihr Einfluss. Das Gefühl verstärkt sich. Deine Stimmen schöpfen mich immer wieder von Neuem. Darum wird in dir, liebes lustiges Dummchen, der Mund so oft wiederholt. Das Zuhause der Zunge. Die Nähe.

Zum Schluss möchte ich noch sagen, dass ich wie du sein will, ebenso fröhlich und energisch, das eigene Leben genießend. Schließlich bist du aus meinem Wunsch, sich an Wörtern und Rhythmen zu freuen, entstanden. Aus dem Wunsch, heiter und albern, sogar lächerlich zu sein. Zungenfröhlich! Andererseits habe ich auch die Trauer herausschreiben wollen, wie sie die Abwesenheit des aus purer Freude quasselnden Mundes verursacht.

Hoffentlich bereitest du denen, die dich hören, Freude und gibst ihnen Gründe zu Juchzen und Übermut. Und ich hoffe, der Mund wird durch dich in viele Münder zurückkehren.


1Wörtlich: »dort gibt es eine feine Wiege aus Sand«

2Wörtlich: »in der Goldwiege wippen«

3Ziegenmelker oder Nachtschwalbe (Caprimulgus europaeus)

4Wörtlich: »weit weg die tückische Welt«