Eduard Escoffet: Ode to the Walking Class


Eduard Escoffet wurde 1979 in Poblet, Barcelona, geboren und ist ein katalanischer Lyriker mit Schwerpunkt im Bereich der Lautpoesie und Performance. Als Vertreter einer jungen katalanischen Dichtung entwickelt und verbindet er Formen textueller, visueller, auditiver und performativer Poesie. Dabei arbeitet er mit Stimme, Computer, Audioaufnahmen und Projektionen. Escoffet war Gast auf Poesiefestivals in aller Welt, neben zahlreichen europäischen Ländern u. a. in Chile, China, der Dominikanischen Republik, den USA, Nicaragua, Brasilien, Ecuador, Argentinien und Mexiko. Als Veranstalter hat er u.a. das angesehene Festival für experimentelle Literatur PROPOSTA initiiert und ist seinerseits Gast auf zahlreichen internationalen Treffen. Zuletzt erschien 2017 seine Gedichtsammlung Menys i tot.

Auszug aus der Partitur Ode to the Walking Class von Eduard Escoffet
Ode to the Walking Class, interpretiert durch das SprachKunstTrio sprechbohrer

Eduard Escoffet
Ode to the Walking Class

Aus dem Katalanischen von Susanne Heyse

In der Atacama-Wüste in Chile gibt es eine große Mülldeponie, auf der sich 100.000 Tonnen Kleidung stapeln. Es handelt sich um gebrauchte und vorrangig in asiatischen Ländern produzierte Kleidung, die, wenn sie in Boutiquen in den USA und Europa nicht verkauft wird, am Freihandelshafen von Iquique in Chile ankommt. Hier wird sie sortiert nach noch verkaufsfähiger Ware und für den Markt wertloser Ware. Die als »nutzlos« aussortierte Kleidung landet auf der illegalen Mülldeponie inmitten der Atacama-Wüste: Zwischen trockenen Hügeln und staubigen Wegen bilden sich Dünen und Berge aus Wäsche, die unkontrolliert anwachsen, bis ein großer Brand sie dezimiert, aber nie vollständig verschwinden lässt.

Mit der Sonne als einziger Zeugin – und weit entfernt von den Blicken der Bürger – häufen sich regungslos die Kleidungsstücke und die Schande der Konsumgesellschaft, die auf Kosten eines erschöpften Planeten Wachstum generiert. Die globale Wirtschaftsdynamik und die Gier der fast fashion ermöglichen dieses untragbare System: Die Kleidungsstücke reisen um die Welt, ohne genutzt zu werden, und die natürlichen Ressourcen werden verschwendet, nur um die Maschinerie in Gang zu halten. Und das alles im Kontext der Klimakrise – nicht zu vergessen, dass die Modeindustrie einer der Hauptverursacher von Umweltverschmutzung ist – und einer tiefgreifenden Migrationskrise. Auf dieser Mülldeponie kommen einige der Venezolaner an, die 8.000 km durch Kolumbien, Ecuador und Peru gezogen sind, um die chilenische Hauptstadt zu erreichen. Sie machen auf der Deponie Halt, um die Schuhe und Kleidung, die sie tragen, durch neue zu ersetzen – sie haben meist nur spärliches Gepäck dabei. Wie die alte Kleidung, so reisen auch die Migranten in die Wüste, ausgestoßen von einem System der globalen Ungleichheit; die einen auf den internationalen Handelsrouten, die anderen zu Fuß. Bei ihrem Zusammentreffen wird ein Systemfehler offensichtlich: Die Gesetze des globalen Kapitalismus erlauben es der Kleidung, mit größerer Leichtigkeit zu reisen als den Menschen, die häufig auf Mauern und unüberwindbare Grenzen stoßen.

Seit dem Jahr 2015 sind über 5,5 Millionen Menschen aus Venezuela geflohen. Laut Angaben der Organisation Amerikanischer Staaten (OEA) verlassen jeden Tag 4.000 bis 5.000 Venezolaner ihr Land, die meisten zu Fuß und weil sie in ihrem Heimatort keine Lebensgrundlage haben und ihnen keine Wahl bleibt. Es handelt sich um eine der schwerwiegendsten Migrationskrisen der letzten Jahre: Sie übertrifft in ihrer Größenordnung sogar die Migration aus Syrien. Derzeit finden in Amerika zwei Migrationsbewegungen der Verzweiflung statt: eine Bewegung gen Norden – durch Zentralamerika – und eine weitere gen Süden. Zu den Venezolanern, die aus ihrem Land fliehen, kommen die Migranten aus anderen amerikanischen Ländern hinzu und all jene, die aus Afrika und sogar aus Asien kommend versuchen, den amerikanischen Traum zu leben.

Nach einem kurzen Besuch in Bogotá, Kolumbien, kam ich am 1. Dezember 2021 in Cúcuta an, der kolumbianischen Grenzstadt zu Venezuela, durch die ein Großteil der Migranten zieht. Ich folgte einer Einladung der Stiftung Fundación El Pilar zur Abschlussveranstaltung des III. Internationalen Treffens für Kunst, Denken und Grenzen mit dem Titel »Juntos Aparte 2021« (was so viel bedeutet wie »gemeinsam getrennt«). Während der zehn Tage meines Aufenthalts besuchte ich den Grenzübergang an der Simón-Bolívar-Brücke, die San Antonio de Táchira (Venezuela) mit Cúcuta (Kolumbien) verbindet und über den Fluss Táchira führt. Ich sah dort Menschenkonvois entlang der Straßen in Richtung Bogotá. Es gab sogar Straßenschilder, die zur Vorsicht mahnten aufgrund der Präsenz von Menschen entlang der Straßen.

Bevor die Migranten Bogotá erreichen, müssen sie 600 km quer durch die Anden laufen und den Páramo de Berlín überwinden, einen der aufgrund der Höhenmeter und der niedrigen Temperaturen gefährlichsten Punkte der Reise. Seinen Namen verdankt der Ort einem deutschen Reisenden, den das Klima in den Anden an das Klima in Berlin erinnerte. Während der Tage in Cúcuta begann ich, über das Konzept meines Werkes Walking Class nachzudenken. Bereits seit einigen Jahren hatte ich mich mit dem Thema des wirtschaftlichen Abschwungs und dem Akt des Laufens als Zeichen des Widerstands angesichts der Diktatur der Schnelligkeit und des Kraftstoffkonsums beschäftigt. Doch die Realität vor Ort in Kolumbien gab mir einen Einblick, der mich dazu zwang, den Akt des Laufens vollkommen neu einzuordnen.

Heutzutage prägen große Migrationsbewegungen mehr denn je unsere Realität: seien es die amerikanischen Migranten, die gen Norden laufen oder auf die großen südamerikanischen Städte zuströmen, seien es die Migranten, die in seeuntüchtigen Booten das Mittelmeer überqueren, seien es jene, die Syrien und andere Krisengebiete verlassen … Hinzu kommen nun auch die aus der Ukraine flüchtenden Menschen. Hinter den Bildschirmen unserer Welt verbergen sich Millionen von Personen, die laufen, fliehen und alles hinter sich lassen, selbst wenn sie nicht genau wissen, wo ihr Ziel liegt. Gleichzeitig reisen die Überschüsse des anderen Teils der Welt ungehindert von Ort zu Ort, auf Kosten der Gesundheit des Planeten. Das Kapital legt die Reiserouten fest: Einen Teil der Welt versetzt es in den Rausch des Neuen, den anderen Teil der Welt verdammt es zur Armut. Ohne uns von zu Hause wegzubewegen, können wir zu günstigen Preisen Dinge von der anderen Seite des Globus bestellen. Zeitgleich sorgen wir uns um all jene, die ein besseres Leben anstreben. Wir verwandeln einen Teil der Welt und unsere eigenen Wohnorte in einen unüberwindbaren Bunker, errichtet auf der Verzweiflung des Rests der Welt.

Während in Europa und Nordamerika das Klassenbewusstsein verwischt und damit alle Errungenschaften des Kampfes der Arbeiterklasse (working class), entsteht eine neue Klasse, deren Antrieb die Verzweiflung ist: Die Laufenden bzw. die walking class. All jenen Menschen, die den zivilen Akt des Laufens in einen Akt des Widerstands und des Glaubens verwandeln, ist dieses Werk gewidmet. Bisher hatte mich das Laufen an sich als eine vom Kapital losgelöste Handlung interessiert, die umweltschonend ist und eine Welt infragestellt, die der Schnelligkeit huldigt. Seit meiner Erfahrung in Cúcuta hat der Akt des Laufens für mich eine vollkommen neue Wertigkeit. Dies ist der Ausgangspunkt des Werkes Ode to the Walking Class.

In diesem Werk habe ich rezitierten Text und präzise Anweisungen mit ein paar abstrakteren Teilen und einem Abschnitt kombiniert, in dem den Interpreten Raum zum Improvisieren bleibt. Ich habe auch erneut Tonaufnahmen verwendet. Es handelt sich um ein Stück für sechs Stimmen: drei Live-Stimmen und drei Stimmen vom Band. Hervorheben muss ich ebenfalls, dass es das erste Werk ist, das ich zur Aufführung durch andere Interpreten schreibe. Die Tatsache, dass das phonetisch-musikalische SprachKunstTrio sprechbohrer die Aufführung übernimmt – ein Ensemble, dem ich seit vielen Jahren mit Bewunderung folge –, machte die Herausforderung für mich noch größer. Einem Dichter wie mir, der sich bei der Arbeit zum großen Teil auf die eigene Performance und den eigenen Körper stützt, fällt es nicht leicht, von der eigenen Stimme Abstand zu nehmen und in Dialog mit anderen Stimmen wie denen der sprechbohrer zu gehen. Ohne Zweifel waren die unterschiedlichen Wege, die mich zu diesem Werk geführt haben, eine wunderbare Erfahrung. Ich möchte den sprechbohrern und der Lettrétage für die großartige Gelegenheit danken, ein so diffiziles Thema in einem Raum kreativer Freiheit, der sich zwischen Musik und Poesie bewegt, behandeln zu können. Nun gilt es, ziellos loszulaufen!